Die Behörden schwiegen

Eine IPPNW-Ärztegruppe besuchte nach dem IPPNW-Weltkongress die Präfektur Fukushima, um sich vor Ort über die Lage zu informieren und mit den Menschen dort zu sprechen. Sie besuchten auch die Gemeinde Iitate die – obwohl außerhalb der Evakuierungszone gelegen – stark kontaminiert wurde, als eine radioaktive Wolke in Richtung Nordwesten zog und dort vermutlich am 15.03.2011 niederging. Die Evakuierung der Gemeinde zog sich bis Mai 2011 hin. Angelika Claußen und Alper Öktem, Teilnehmer der Fahrt in die Präfektur, berichten von der Begegnung mit der 33-Jährigen Mutter Kyo-ku Sato aus Iitate, die jetzt zusammen mit anderen Betroffenen eine Selbsthilfegruppe der kleinen Umweltorganisation „Ecology Archi Scope“ in Fukushima besucht:

„Die Behörden schwiegen und haben uns allein gelassen. Es war am frühen Nachmittag des 11.03.2012, als ich einkaufen war. Meine 8-jährige Tochter war noch im Kindergarten. Da hörte ich die Tsunami -Warnung durch den Lautsprecher des Kaufhauses“, berichtet die 33-jährige Mutter. „In großer Panik setzte ich mich ins Auto, um meine Tochter aus dem Kindergarten zu holen. Unterwegs auf der Straße hatte ich mit Sandwolken vom Tsunami zu kämpfen, die die Sicht versperrten. Angekommen am Kindergarten fand ich meine Tochter mit anderen Kindern vor dem Eingang des Kindergartens, eingehüllt in eine Decke. Alle Kinder waren nach draußen gebracht worden, wegen des Erdbebens. Meine Tochter fing an zu weinen, als sie mich sah. Sie zitterte am ganzen Körper, die Augen ganz groß. Elektrizitäts- und Wasserversorgung waren wegen des Erdbebens unterbrochen. So konnte man keine Nachrichten empfangen. Ich fuhr mit meiner Tochter nach Hause und musste sie dann bei meinem Mann zurücklassen, weil ich noch die Abendschicht im Altenheim antreten musste.

Am ganzen nächsten Tag, den 12.03. erfuhren wir nichts darüber, dass der Reaktor in Fukushima schwer beschädigt war. Erst am 13.03. kamen die Meldungen von den Behörden von dem Reaktorschaden in Fukushima-Daichii. Aber über die radioaktive Strahlung, da schwiegen sie. Erst drei Tage später, am 16.03.2012, wurden wir darüber informiert, dass radioaktive Strahlung ausgetreten war. Anweisungen oder Empfehlungen der Behörden gab es keine. Mein Mann und ich überlegten, was zu tun sei. Ich erinnerte mich, dass wir in einer Umweltgruppe früher schon einmal über mögliche Reaktorunfälle diskutiert hatten und auch darüber, wohin die radioaktive Wolke eventuell ziehen würde. Damals erfuhren wir, dass Iitate zu einem der ersten verstrahlten Gebiete gehören müsste.

Ab dem 15.03. kamen zudem noch die Evakuierten aus den Tsunami-Gebieten des Norden zu uns nach Iitate und wurden vorläufig in Schulen untergebracht. Weil wir ahnten, dass die Radioaktivität sehr hoch werden könnte, entschlossen mein Mann und ich uns am 16.03. nach Fukushima-Stadt zu gehen und ließen unsere Nachbarn zurück, die unsere Entscheidung damals nicht verstanden. Als meine Tochter zum April hin eingeschult werden musste, wollte sie nicht in Fukushima in die Schule gehen. Sie bettelte immer, dass sie zusammen ihren alten Freundinnen in die Schule gehen wollte. Sie bekam Hautauschlag und Haarausfall. Wir waren völlig fertig. Wir trafen dann die Entscheidung, sie trotz der höheren Verstrahlung an der Grenze zu Iitate zusammen mit ihren alten Freundinnen in die Schule gehen zu lassen. Dann ging ihr Hautausschlag langsam zurück und ihre Ängste wurden weniger. Am 20.03. sagten die Behörden den Leuten in Iitate, sie könnten jetzt selbst entscheiden, ob sie das Dorf wegen der radioaktiven Strahlung verlassen wollten. Jodtabletten wurden übrigens nicht ausgeteilt.

Am 1. April befanden sich immer noch 4000 Menschen in Iitate (Bevölkerung ursprünglich 6000). Die offizielle Evakuierung ging nur langsam voran. In der ganzen Präfektur Fukushima gibt es 98.000 Evakuierte, 62.000 Evakuierte befinden sich in anderen Präfekturen, also 160.000 Menschen insgesamt. Die Katastrophe von Fukushima hat unser gesamtes Leben durcheinandergebracht. Aber ich bin froh, dass ich mich regelmäßig hier in der Gruppe treffen kann.“

Die aktuellen Strahlenwerte im August 2012 in Fukushima-Stadt schwanken zwischen 0,25 Mikrosievert bis zu 2 Mikrosievert pro Stunde im sehr stark verstrahlten Stadtteil Watari. Das würde hochgerechnet einem Wert zwischen 2, 25 Millisievert und 18 Millisievert jährlich an zusätzlicher radioaktiver Strahlung entsprechen. Zum Vergleich: Südbayern wurde nach der Tschernobylkatastrophe mit 1 Millisievert pro Jahr an zusätzlicher Strahlung kontaminiert.

Aus Fukushima-Stadt, am 30. August 2012, Ihre Angelika Claussen und Ihr Alper Öktem

Quelle: http://blog.ippnw.de/?p=446

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