Leserbrief zu „Bund streicht Milliarden: Busse und Bahnen teuerer“ v. 24.11.05 NW

Fatale Trendwende?

Die Bahnreform Anfang der 90er mit der Regionalisierung des ÖPNV hat zu einer außerordentlich positiven Entwicklung des ÖPNV in den letzten 15 Jahren beigetragen. So konnte beispielsweise moBiel seit 1990 seine Fahrgastzahlen um mehr als 60% steigern. Der Verkehrsverbund OWL hat ähnlich gute Zahlen für den Schienenverkehr vorzuweisen.

Herzstück der Regionalisierung waren garantierte Zuschüsse („Regionalisierungsmittel“) des Bundes für den ÖPNV. Diese Zuschüsse ermöglichten den Aufbau eines attraktiven, nutzerfreundlichen Angebots bei Bussen und Bahnen. Nun sollen diese Zuschüsse nach dem Willen der großen Koalition um 2,1 Mrd €, also 30%, gekürzt werden.

Die Verkehrsunternehmen können diese Kürzungen durch Kosteneinsparungen bzw. Produktivitätssteigerungen nicht auffangen. Sie haben ohnehin schon mit den hohen Dieselpreisen und dem sich verschärfenden Wettbewerb reichlich betriebswirtschaftlichen Druck. Sie können die Kürzungen auch nicht einfach an die Fahrgäste durch Preiserhöhungen durchreichen, weil dann die Fahrpreise aus dem Ruder laufen würden.

Das Streichen von Betriebsleistungen wird also unausweichlich sein. Und das bedeutet eine negative Trendwende in der ÖPNV-Entwicklung der letzten 15 Jahre.

Es ist zu befürchten, dass wir – zumindest teilweise – auf das Niveau der rein bedarfsorientierten ÖPNV-Strategie der 70er zurückfallen, die zu dem bekannten Ausbluten des ÖPNV bis Mitte der 80er Jahre geführt hat. Wenn wir wieder anfangen, in sog. Schwachlastzeiten das Angebot auszudünnen, wird der ÖPNV Schritt für Schritt an Systemqualität verlieren. Fahrgastverluste werden folgen, und die aus den 70er Jahren bekannte negative Spirale wird wieder in Gang gesetzt.

Dass eine solche Entwicklung umweltpolitisch verhängnisvoll wäre, ist evident. Auch die negativen volkswirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Folgen sind eigentlich unmittelbar einleuchtend. Aber auch sozialpolitisch wäre eine solche Entwicklung hochproblematisch. Es wird allzu oft übersehen, dass noch immer mehr als 30% der Menschen in Deutschland nicht über ein Auto verfügen können und deshalb auf den ÖPNV angewiesen sind. Und diese 30% zählen überwiegend zu den unteren, allenfalls mittleren, Einkommensgruppen. Für sie würde eine Verschlechterung des ÖPNV-Angebots eine direkte Einbuße an Mobilität und damit an Lebensqualität bedeuten.

Nach meiner festen Überzeugung gibt es zu einem weiteren Ausbau des ÖPNV keine Alternative. Deshalb appelliere ich an die Verantwortlichen der Großen Koalition, diese Festlegung des Koalitionsvertrags noch einmal kritisch zu überprüfen. Eine Stagnation in der Entwicklung des ÖPNV mag für einige Jahre hinnehmbar sein. Aber eine Rückwärtsentwicklung mit Angebotseinschränkungen wäre fatal. Das darf es nicht geben; es würde auch von den Menschen nicht verstanden werden.

Dr. Godehard Franzen

GodehardFranzen/Leserbrief/2005-11-24 (zuletzt geändert am 2023-02-08 16:08:01 durch KurtGramlich)

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