Leserbrief zum Artikel „Tempo 120: …“ (Titelseite 9.5.2013) NW
Ein Volk von Rasern
Der Streit um ein generelles Tempolimit ist nicht zwanzig Jahre alt, wie Steinbrück meint, sondern bereits vierzig. Im Zuge der ersten Ölkrise 1973 wurde ein generelles Tempolimit auf deutschen Autobahnen von 100 km pro Stunde angeordnet. Alle Länder des westlichen Europas handelten ähnlich. Wie hoch der Benzineinspareffekt damals wirklich war, ist bis heute umstritten. 1974 hob die damalige Regierung Brandt das generelle Tempolimit wieder auf. Vorausgegangen war eine massive Kampagne des ADAC unter dem Motto „Freie Fahrt für freie Bürger“. Ich bin damals aus dem ADAC ausgetreten. Die allermeisten europäischen Länder folgten dem deutschen Beispiel nicht, sondern behielten unterschiedliche Tempoobergrenzen bei. Das Benzinsparen spielte eine Rolle. Mindestens genauso wichtig waren die beobachtbaren Effekte auf die Anzahl schwerer Unfälle und auf die Verkehrskultur insgesamt. Wie viel entspannter das Fahren auf den Autobahnen im Ausland ist, wissen die allermeisten zu schätzen.
Seit 1974 wird das Recht auf schnelles Fahren in Deutschland mit Zähnen und Klauen verteidigt. Die Argumente gegen ein generelles Tempolimit haben mit Vernunft nichts zu tun. Im Kern steckt ein Verständnis von Freiheit dahinter, das mich an das US-amerikanische Freiheitsverständnis erinnert, das für den freien Waffenbesitz in den USA immer ins Feld geführt wird.
Das Umweltbundesamt weist seit seiner Gründung darauf hin, dass ein generelles Tempolimit deutliche Einspareffekte hätte. Dass es solche Effekte gibt, kann jeder und jede selbst überprüfen. Mit meinem acht Jahre alten PKW verbrauche ich bei einer Autobahnfahrt mit max. 100 km/h ca. 5 Liter, bei 120 km/h ca. 6 Liter und bei bis zu 140 km/h schon etwas über 7 Liter. Die Einsparung durch ein Tempolimit bekommt man zum Nulltarif. Es ist völlig irrational, sie nicht zu nutzen. Deutschland als Vorreiter in der Klimapolitik – ohne Tempolimit nicht wirklich glaubwürdig.
Auch die Unfallforscher sind sich einig, dass ein generelles Tempolimit positive Effekte hätte. Es ist völlig unbestritten, dass zu schnelles Fahren – neben Alkohol – die Hauptunfallursache ist, vor allem bei schweren Unfällen. In Deutschland wird insgesamt zu schnell gefahren. Wir sind ein Volk von Rasern. Wir müssen den Verkehr entschleunigen und zu einer anderen Verkehrskultur kommen. Ein unerlässlicher Schritt dazu ist ein generelles Tempolimit.
Es gäbe wichtigere Probleme als ein generelles Tempolimit, z. B. die marode Verkehrsinfrastruktur – so hört man es vom ADAC, von Ramsauer und auch einigen SPD-Vorderen. Man lernt in jedem mittelmäßigen Rhetorik-Seminar, dass dies Argument ein klassisches Ablenkungsmanöver ist.
Herr Gabriel gehörte lange Jahre zu den engagierten Gegnern eines generellen Tempolimits. In seiner Zeit als Bundesumweltminister hat er sich wiederholt und mit merkwürdigen Argumenten dagegen ausgesprochen. Er hat dazu gelernt – Hut ab.
Dr. Godehard Franzen