Kurs der Volkshochschule Ravensberg
Bericht eines Teilnehmers
Ein gutes Jahr ist es her, dass ich nach einem langen, anstrengenden Samstag den Hauptbahnhof Münster verlasse und mit rauchendem Kopf inmitten des Abstellchaos der Bahnhofsostseite umherirre, um mein treues, absichtlich unauffälliges Alltagsrad wiederzusuchen. Die Gedanken und Eindrücke des Tages schwirren noch so in mir umher, dass ich die Suche nach anderthalb Stunden mehrfachen Abgehens sämtlicher Fahrradständer entnervt aufgebe – davon ausgehend, dass mir jemand das Fahrrad geklaut hat. Als ich tags darauf noch einmal mein Glück versuche, finde ich das gute Stück innerhalb weniger Minuten dort wieder, wo ich es am vorherigen Morgen angeschlossen hatte.
Der Grund, dass mir an jenem Abend so der Schädel schwirrte, war ein ein eintägiger Kurs der Volkshochschule Ravensberg. Fahrradaktivisten aus der Region um das westfälische Halle war etwas gelungen, was hier in Münster zwar mehrfach versucht wurde, aber nie von Erfolg gekrönt war:
Die Aktivisten waren an die Rohdaten der Unfallstatistiken 2012 bis 2014 gekommen – nicht nur aus der Region, sondern aus ganz Nordrhein-Westfalen. Enthalten sind darin alle statistisch relevanten Parameter zu sämtlichen Verkehrsunfällen in Nordrhein-Westfalen: Unfallort und -zeit, Informationen zu den Beteiligten, die Art der Verkehrsbeteiligung, ein schematisierter Unfalltypus. Der Datenbestand umfasst etwas mehr als anderthalb Gigabyte für die drei Jahre.
Schnell wird im Laufe des Kurses klar, dass mit den nun vorliegenden Daten die Möglichkeit geschaffen wird, selbst Schlüsse aus der Unfallstatistik zu ziehen. In Münster hatte die Direktion Verkehr die Daten lange Zeit nicht herausgerückt – und so die Deutungshoheit über die Unfallstatistik behalten.
Dabei sind die Daten in der Unfallstatistik völlig anonymisiert – datenschutzrechtliche Bedenken bestehen nicht. Sogar die Straßennamen liegen nicht nicht im Klartext vor, sondern sind nur über den städtischen Schlüssel herauszufinden. Der allerdings ist öffentlich.
Mir kommt eine Idee: Brächte man die Ortsdaten zu den Fahrradunfällen mit einer Karte des Radverkehrsnetzes in Münster zusammen – notfalls per Online-Recherche über Google Earth – dann ließe sich mit diesen Daten eine der unangenehmsten Fragen beantworten, die ich mir seit Anfang dieses Blogs stelle:
Wie viele der Fahrradunfälle in Münster geschehen eigentlich auf den Fahrradwegen?
Bereits in meinem alten Gastartikel auf Zukunft Mobilität hatte ich darauf hingewiesen, dass in unregelmäßig veröffentlichten Auszügen der elektronischen Unfallsteckkarte der Polizei die Unfallhäufungslinien in etwa dem Radverkehrsnetz der Stadt Münster entsprächen. Doch weil man nicht an die Unfalldaten herankam, musste diese Frage bisher unbeantwortet bleiben.
Im Laufe des Jahres 2016 kommt die Fachgruppe Radverkehr des ADFC Münsterland dann doch noch an die münsterschen Unfalldaten aus dem Vorjahr. In der entsprechenden Datei sind die Straßennamen bereits zugeordnet – eine enorme Arbeitserleichterung. Und ein weiteres Teil des Puzzles trifft ein: Eine digitale Kopie der offiziellen Radwege-Karte der Stadt Münster. Darin sind sämtliche Radverkehrsanlagen der Stadt auf einer Straßenkarte verzeichnet.
Jetzt brauchen die beiden Informationen nur noch zusammengeführt werden. Doch das ist Fleißarbeit: Bei über 900 Datenbankeinträgen in der Straßenkarte muss überprüft werden, ob an der entsprechenden Stelle ein Fahrradweg angelegt ist. Meistens ist das recht eindeutig, aber in manchen Fällen hilft nur ein prüfender Blick bei Google Earth. Liegt an der Stelle doch noch der Stummel-Radweg vor, oder wurde bereits auf die Fahrbahn übergeleitet? Fahrradweg an der Wolbecker Straße
Fahrradweg als Todesfalle: An der Ampel starb Anfang 2015 eine junge Frau unter einem LKW
Eigentlich müsste man auch einige der Unfälle insgesamt aus der Betrachtung herausnehmen, weil sie an Wegen abseits des normalen Straßenverkehrs geschehen und eine Zuordnung etwas unsinnig ist. Beispiele hierfür sind Unfälle im Verlauf der münsterschen Promenade oder auf Pättkes abseits des allgemeinen Straßenverkehrs. Aber um den Aufwand in der Datei klein zu halten, wird nach dem Grundsatz in dubio pro reo verfahren. Die entsprechenden Unfälle werden den Straßen ohne Radverkehrsführung zugeschlagen.
Und noch eine Ungenauigkeit der Methode darf nicht unerwähnt bleiben:
Natürlich werden auf diese Art und Weise auch solche Unfälle den Fahrradwegen zugeordnet, die auch auf der Fahrbahn geschehen wären. Ein Sturz auf Grund eines Felgenbruchs aus Materialermüdung wäre ein Beispiel hierfür.
Andererseits geschehen durchaus auch Unfälle auf der Fahrbahn, die durch den Fahrradweg im Seitenraum induziert werden. Der Klassiker hierfür sind Querungsunfälle an einseitig geführten Zweirichtungsradwegen. Auf derartig ausgestatteten Straßen kommt es gerade in den Außenbereichen immer wieder zu Unfällen, weil Radfahrer die Fahrbahn queren müssen, um den Radweg auf der gegenüberliegenden Seite zu erreichen. Bei Führung auf der Fahrbahn wird hier das Unfallrisiko deutlich gemindert, weil zumindest für einen Teil der Radfahrer die Querung der Gegenfahrbahn entfällt.
Eine genauere Untersuchung, wie hier die Wechselwirkungen zwischen Fahrradweg und Fahrbahn genau sind, scheitert letztlich auch an der Datenbasis. Die Unfallstatistik der Polizei führt nämlich nur in seltenen Fällen im Kommentarfeld auf, ob der Unfall wirklich auf dem Radweg geschehen ist. Da allerdings die Nutzungsquote von Fahrradwegen auch in Münster bei deutlich über 90 Prozent liegt, kann bei den allermeisten Unfällen davon ausgegangen werden, dass der Fahrradweg auch genutzt wurde.
Einziges Kriterium, ob der Marker für den Fahrradweg gesetzt wird, ist, dass an der entsprechenden Straße eine fahrbahnbegleitende Radverkehrsführung eingesetzt wird. Dabei ist unbeachtlich, wie diese Führung baulich ausgeführt ist. Schutzstreifen zählen genau so, wie baulich angelegte Fahrradwege. Die gemeinsame Nutzung von Busspuren durch Radfahrer und ÖPNV wird als Radverkehrsanlage gewertet, sofern in der gleichen Straße noch mindestens eine weitere Fahrspur für den allgemeinen Verkehr angelegt wurde. Dabei sei darauf hingewiesen: Solche Konstellationen sind in der Datenbasis wirklich sehr, sehr wenige vorhanden und dürften statistisch allenfalls unterste Prozentstellen um 1 Prozent verschieben können.
Nachdem bei jedem der Unfälle eingetragen ist, ob ein Fahrradweg vorhanden ist oder nicht, ist der Rest nur noch ein wenig Spielerei mit der Tabellenkalkulation. Das Ergebnis ist schockierend. Zwei Drittel aller Fahrradunfälle geschehen an Straßen mit Fahrradweg
Zugegeben: Für eine wirklich wasserdichte Aussage zur Gefährlichkeit der münsterschen Radverkehrsanlagen müsste man zusätzlich wissen, wie sich der Radverkehr in Münster im gesamten Straßennetz verteilt. Belastbare Zahlen hierzu liegen jedoch leider nicht vor – exemplarisch für den Evaluationsstau in der Stadt Münster: Die stellt lieber Zählstellen an Orten auf, wo möglichst viel Radverkehr durchgeht, sodass sich die Verwertbarkeit für das Stadtmarketing gewährleistet ist.
Stattdessen bleibt nur ein Blick auf das Verhältnis zwischen Radverkehrsnetz und gesamten Straßennetz. Die Stadt Münster nennt auf der Homepage des Amtes für Stadtentwicklung, Stadtplanung und Verkehrsplanung eine Gesamtlänge des Straßennetzes von etwa 1.200 Kilometern. Das Radverkehrsnetz mit ca. 470 Kilometern begleitet dabei lediglich ein Drittel aller münsterschen Straßen. Auf einem Drittel aller münsterschen Straßen geschehen demnach zwei Drittel der Unfälle mit Radfahrerbeteiligung.
Ergebnis mit genaueren Daten noch schlechter?
Dabei muss man sich vor Augen halten, dass Münsters Radverkehr sich höchstwahrscheinlich im Straßennetz anders verteilt als der Kraftverkehr. Ein erheblicher Teil des Radverkehrs wird beispielsweise durch die Promenade aufgenommen. Die ist jedoch für den normalen Kraftverkehr nicht zugänglich. Ähnliches gilt für all die kleinen Einbahnstraßen in den Stadtvierteln, die für den Radverkehr durchlässig sind, aber keinen PKW-Durchgangsverkehr aufweisen.
Hinzu kommt, dass die Stadt Münster seit der Gemeindegebietsreform von 1974 eine Flächenstadt mit großer Ausdehnung ins Umland ist. In der Innenstadt lebt lediglich ein gutes Drittel der Menschen, die in Münster ihren Wohnsitz haben. Obwohl selbst kreisfreie Stadt, ergibt sich hierdurch einiger überörtlicher Verkehr mit entsprechenden Straßen. Gut erkennbar ist dies in der Statistk an den langen kombinierten Geh- und Radwegen, die allein fast die Hälfte des münsterschen Radwegenetzes ausmachen – aber deutlich weniger zum hohen Radverkehrsanteil beitragen dürften.
Mit genaueren Daten zur Verteilung des Radverkehrs in die Fläche dürften sich die Daten also noch einmal deutlich verschieben – und zwar zu Ungunsten der Fahrradwege.
Verletzungsrisiko auf Fahrradwegen erhöht
Die Unfalldaten der Polizei verzeichnen nicht nur den Ort der entsprechenden Unfälle genau, sondern nennen auch, ob bei dem entsprechenden Unfall Personen verletzt wurden. Verletzungen bei Kraftfahrern kommen bei solchen Unfällen faktisch vernachlässigbar vor – verletzt werden nahezu ausschließlich Fußgänger und Radfahrer. Verzeichnet wird zudem der Schweregrad der Verletzung. Als schwerverletzt gilt, wer nach 24 Stunden die Klinik wieder nicht verlassen konnte. Als Todesopfer werden jene Verletzten geführt, die innerhalb von 30 Tagen nach dem Unfall versterben.
Und aus diesen Daten lässt sich hierdurch eine weitere besorgniserregende Vermutung herleiten: An Straßen mit Fahrradweg geschehen nicht nur mehr Unfälle, sondern auch ist die Wahrscheinlichkeit für die Unfallbeteiligten höher, eine Verletzung davonzutragen. Dabei ist besonders schockierend, dass beide Unfälle mit Todesfolge in Münster 2015 an Straßen geschahen, die über eine Radverkehrsführung verfügen. Beide Führungen – Wolbecker Straße und Kanalstraße – werden auf Grund ihrer unzureichenden Ausmaße durch Münsters Fahrradaktivisten seit Jahrzehnten stärkstens kritisiert.
Unfälle mit LKW meistens an Radwegen
Ebenfalls in der Unfalldatenbank eingetragen werden die Unfallgegner. Und auch hier bestätigt sich das bereits festgestellte Schema: Je schwerer der Unfallgegner, um so wahrscheinlicher ist, dass der Unfall an einer Straße geschehen ist, die über einen Fahrradweg verfügt. 80 Prozent der Unfälle zwischen Radfahrern und LKW geschahen in Münster 2015 an solchen Straßen – ein katastrophaler Wert.
Was zunächst anti-intuitiv erscheint, ist unter Fahrrad-Aktivisten und Teilen der Unfallforschung lange bekannte Folge einer ungünstigen Radverkehrsführung im Seitenraum der schweren Fahrzeuge. Radfahrer werden in der Stadt Münster ausgerechnet dort geführt, wo sie aus Lastkraftwagen heraus besonders schlecht gesehen werden können. Tote Winkel gibt es zwar in modernen LKW nicht mehr, allerdings erfordern Abbiegevorgänge von LKW-Fahrern den Blick in mehrere Seiten- und Rückspiegel bei höchster Konzentration: Eine beinahe unmenschliche Herausforderung, an welcher immer wieder Fahrer scheitern – mit den in der Statistik zu Tage tretenden Folgen.
Dabei ist allerdings auch auffällig, dass Münsters Stadtbusse und Radfahrer sich deutlich seltener auf Radverkehrsführungen in die Quere kommen. Grund hierfür dürfte sein, dass die Kreuzungen an den Hauptlinien des münsterschen Bus-Netzes inzwischen weit überwiegend mit Ampeln ausgestattet sind: Ein Umstand, der sich allein aus Flächengründen nicht auf sämtliche Radverkehrsanlagen ausweisen lässt. Ebenso kann eine Rolle spielen, dass Münsters Busfahrer die Verhältnisse in der Stadt gewohnt sind, während gerade auswärtige Fahrer mit der ungewohnten Situation überfordert sind. Durch das vehemente Festhalten an unzureichenden Radverkehrsführungen entfernt sich die Praxis in Münster immer weiter vom Bundesstandard – was in Zukunft noch mehr Opfer fordern dürfte.
Bestätigung vorheriger Studien
Das Ergebnis dieser Eigenrecherche deckt sich dabei mit älteren Untersuchungen, die auf dem Radverkehrsnetz der Stadt Münster durchgeführt wurden. Bereits Anfang der 1990er-Jahre hatte die BASt für ihre Schrift Verkehrssichere Anlage und Gestaltung von Radwegen deutliche Zweifel an den Radverkehrsführungen in der Stadt gehegt. Etliche Gefährdungslagen der damaligen Untersuchung sind noch heute nicht beseitigt. Beispiele hierfür sind die Fahrradwege an der Hammer- und Wolbecker Straße. Die Untersuchung war einer der Wegbereiter für die 1998 erfolgte generelle Aufhebung der Radwege-Benutzungspflicht. Sie stellte ausdrücklich den Zusammenhang zwischen unterdimensionierten Radverkehrsanlagen und einem deutlich erhöhten Unfallrisiko her:
- Einzelne Fallbeispiele mit stark befahrenen Radwegen [Anm: Die Beispiele stammten aus Münster] weisen hohe Unfallbelastungen im Längsverkehr zwischen Radfahrern auf. Es wird deutlich, dass bei hohen Radverkehrsbelastungen Radwegbreiten von etwa 1,50 m bei weitem nicht ausreichen sind, um konfliktarme Radverkehrsabläufe zu ermöglichen.
2008 untersuchte dann die Unfallforschung der Versicherer die Sicherheitslage im Verkehrsnetz der Stadt Münster. Auch diese Studie identifizierte unterdimensionierte Radverkehrsanlagen explizit als einen der Hauptgründe für die angespannte Sicherheitslage im Radverkehr:
- Die Verkehrsanlagen sind inzwischen in Grenzbereiche für die Verkehrssicherheit gestoßen und reichen im derzeitigen Zustand an vielen Stellen und Strecken nicht mehr aus, um sichere Verkehrsabläufe zu gewährleisten. Insbesondere werden die Dimensionierung der Radverkehrsanlagen und die Radverkehrsführung in Knotenpunkten dem hohen Radverkehrsanteil nicht mehr gerecht. Verbesserung der Verkehrssicherheit in Münster, Schlussbericht, S. 65
Die Befunde beider Untersuchungen wurden sowohl von der Polizei Münster als auch vom Ordnungsamt als Straßenverkehrsbehörde geflissentlich ignoriert. Stattdessen konterten die Behörden in völliger Verkennung der Sachlage mit einer ressentiment-durchseuchten Broken Window-Strategie und erhöhten den Überwachungsdruck: Weitestgehend folgenlose Delikte wie etwa Verstöße gegen die Beleuchtungsvorschriften (0,3 Prozent Anteil an der Unfallstatisitk) oder Rotlichtmißachtungen (3 Prozent Anteil an der Unfallstatistik) an nachrangigen Lichtzeichenanlagen wurden medial in Szene gesetzt. Zynischer Höhepunkt: Ein sexistischer Kinospot, der indirekt Unfallopfer verhöhnt.
Radverkehrsnetz nicht verkehrssicher
Am 20. Februar hat die Polizei Münster die aktuelle Unfallstatistik für das Jahr 2016 veröffentlicht. Kurz gefasst: Neues gibt es nicht. Mit einer nachhaltigen Verbesserung der Sicherheitslage ist nicht zu rechnen. Rudi Koriath, der den inzwischen pensionierten Udo Weiß als Münsters obersten Verkehrspolizisten beerbt hat, machte in seiner ersten Stellungnahme zur Unfallstatistik deutlich, dass die bisherige Mischung aus Wissenschaftsfeindlichkeit, Mutmaßungen, Dilettantismus und Victim Blaming bei der Polizei Münster fortgeführt werden wird:
- Durch besseren Schutz, wie zum Beispiel einen Fahrradhelm oder bessere Sichtbarkeit könnten Verkehrsunfälle mit schwerwiegenden Folgen verhindert werden. Rudi Koriath, Direktionsleiter Verkehr
Woher der Mann die Hoffnung nimmt, dass ausgerechnet das Sicherheits-Nocebo Fahrradhelm die Wende in der Unfallstatistik bringen wird, ist völlig schleierhaft.
Dass ein nicht verkehrssicheres Radverkehrsnetz Hauptursache bei einem Großteil aller Fahrradunfälle sein könnte, hat bei der Polizei Münster und im Ordnungsamt noch immer niemand auf dem Schirm. Polizei und Ordnungsamt Münster sind in Sachen Verkehrssicherheit ähnlich sinnvoll, wie die Feuerwehr in Ray Bradburys Fahrenheit 451.
Quelle: http://leezerize.de/wordpress/2017/02/22/muenster-unfallursache-fahrradweg/